Klaus Boy muss nicht viel überlegen, bevor er liebevoll über das Ostseebad Binz auf der Insel Rügen spricht. Im Binzer Ortsteil Prora war er Leiter des Hauses der Armee. Nach der Wende hat er sein eigenes Unternehmen aufgebaut, das von seiner Schwiegertochter Franziska geführt wird und mittlerweile an seinen Sohn übergeben wurde. Touristen, die mit den Boy’s durch Binz schlendern, können sich auf viele Anekdoten freuen. Für die Familie sind sie ebenfalls ein Stück Lebensgeschichte.
An diesem Morgen begrüßen der weißbärtige Gästeführer und seine Frau eine Gruppe von rund dreißig Touristen am Haus des Gastes. „Ich erzähle Ihnen heute einiges darüber, wie das einstige Dorf Binz zum Seebad wurde“, sagt er schmunzelnd und setzt sich mit seiner kleinen Männerhandtasche beschwingt in Bewegung. Wir folgen ihm als er erzählt, dass der Ort 1318 erstmals erwähnt wurde und der Baedeker Reiseführer Binz bereits im 18. Jahrhundert aufgrund seines feinen Sandstrandes als schönstes Bad bezeichnete.
Berühmte Bäderarchitektur
Warme und kalte Meerwasserbäder waren einst sehr beliebt in Binz. Das Wasser wurde aus dem Meer gepumpt und im Haus des Gastes zum Baden aufbereitet. Um diese Zeit sprach sich herum, dass der Ort ein Geheimtipp ist. 1825 begann der Bauboom – Hotels, Pensionen und die für den Ort so berühmte Bäderarchitektur entstanden. Die herrschaftlichen Villen an der Strandpromenade wurden mit einem preiswerten Kalkanstrich und den drei typischen Merkmalen für die Bäderarchitektur versehen: dem Kastenbau, dem Vorbau als Veranda oder Balkon und dem Türmchen obendrauf.
Heute stehen die Häuser unter Denkmalschutz und wurden seit der Wendezeit in liebevoller Detailarbeit und mit einem großen Investitionsvolumen überwiegend von den Besitzern saniert. Es ist wohl der besondere Stilmix aus Klassizismus, Neobarock und Jugendstil, der Binz mit seinen Feriendomizilen und Logierhäuser zu einer derart begehrten Urlaubsdestination werden ließ. Seit 2005 ist die Anzahl der Übernachtungen von knapp zwei Millionen Gästen auf rund 2,5 Millionen Gäste angestiegen. Die Gästeankünfte – auch ohne Übernachtungen – lagen 2005 noch bei rund 350.000 und im vergangenen Jahr bei rund 450.000. Auch mit der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer der Touristen kann das Ostseebad zufrieden sein. Sie liegt mit 5,5 Tagen bei einem guten bundesdeutschen Schnitt in derartigen Tourismusregionen.
Erfinder des Seebades
Klaus Boy erzählt gern auch von den vielen gastronomischen Betrieben im Seebad, das 5.491 Einwohner mit Hauptwohnsitz und 447 Einwohner mit Zweitwohnsitz hat. Dagegen zählt die Statistik knapp neunzig Restaurants, Bars und Cafés sowie rund 15.000 Gästebetten für den Ort und unser Gästeführer erzählt auch hierzu ihm bekannte Anekdoten. Beispiel: Wilhelm Klünder. „Er gilt als der Erfinder des Seebades“, sagt Boy. Mit ihm sei das erste Hotel am Meer entstanden. „Vorher hatte sich niemand zugetraut, so weit an das Meer heranzugehen. Die Menschen hatten noch Respekt davor“, erzählt unser Gästeführer. Doch mit Wilhelm Klünder brach eine neue Zeit an und dort wo er sein Hotel 1883 errichtete, steht heute das Grand Hotel, das von Hotel Arkona Dr. Hutter e.K. betrieben wird.
Nur noch selten zu finden
Ganz in der Nähe des Grand Hotels kehren die Gäste beispielsweise auch gern bei Toni Münsterteicher ein. In seiner Strandhalle wird alles mit Liebe zubereitet, weshalb es das Fischerrezept „Lothars Leibgericht“ sogar zum Favoriten in den Bewertungsportalen gebracht hat. „Wir machen hier Dinge, die in der Gastronomie nur noch selten zu finden sind“, sagt der passionierte Gastwirt und ergänzt das ohnehin breit gefächerte kulinarische Angebot, das neben dem Sternerestaurant freustil über das erste Bio-Restaurant der Insel „meerSalz“ bis zu dem gediegenen Kurhaus-Restaurant reicht. Binz steht genauso für die traditionelle Fischräucherei wie für die gehobene Küche und bietet ein breites kulinarisches Spektrum für Genießer.
Für verrückt erklärt
Damit knüpft der Ort an Vorkriegszeiten an, als etwa Prominente wie der Ufa-Star Willy Fritsch sowie Großindustrielle der damaligen Zeit die Vorzüge dieses Ortes entdeckten und hier glanzvolle Feste im Kurhaus feierten, das Berliner Bankiers einst erbauen ließen. Weniger glanzvoll war die Zeit der „Aktion Rose„, in der Hotels- und Restaurantbesitzer enteignet wurden. „Auch die Villa der Witwe von Wilhelm Klünder wurde damals enteignet“, erzählt Klaus Boy. Heute leben dort Klünders Nachfahren, wenn auch nicht aus erster Linie. Michael Gronegger ist der Sohn einer Cousine der bereits verstorbenen Tochter von Alwine Klünder, der Witwe des Seebad Begründers. Seit 2002 lebt er mit seiner Frau Ingeborg in der Villa Klünder direkt im Turm mit Blick auf das Meer. In seinem Keller hat er wieder einen Weinkeller – genauso wie in Bayern, wo er bis zum Umzug in einem Wasserschloss lebte. Vor ihrer Zeit als Pensionsvermieter waren die Groneggers Banker. „Viele unserer Freunde haben uns für verrückt erklärt als wir sagten, dass wir nach Binz umziehen und die Villa sanieren“, erzählt Michael Gronegger. Bereut hat er es nicht und sich mit seiner neuen Aufgabe arrangiert, die 13 Wohnungen in der Villa in Schuss zu halten. „Als wir kalkuliert haben, sind wir von weniger Belegung ausgegangen als wir heute haben. Das Konzept ist damit aufgegangen. Wir müssen nicht einmal Werbung dafür machen“, erzählt er.
Höhepunkt im September
Die Informationen über die meisten Villen und ihre wechselvolle Geschichte erhalten die Besucher auf einer Tafel, wie sie auch vor der Villa Klünder steht. Seit 2013 gibt es zudem an vielen Häusern auch einen QR-Code, der den Gästen einen digitalen Villenrundgang mit dem Smartphone erlaubt. Auf der hinterlegten Website finden sie die Fakten zu den Villen wie etwa Baujahr, Vorbesitzer, Geschichte nach 1990 sowie kleine Anekdoten und historische Abbildungen. Diese und andere Geschichten, Veranstaltungen und Führungen finden jedes Jahr im September ihren Höhepunkt im Monat der Bäderarchitektur. Hier erzählen auch die Groneggers ihre Anekdoten.
Die Recherche wurde unterstützt durch die freundliche Organisation der Kurverwaltung Binz und ihrer Partnerbetriebe.